Zwischen weiten verminten Feldern steht, ausgebrannt und von Rost zerfressen, ein gepanzerter Transporter. Olexij Jukow streckt seine Hände aus einer Öffnung und überreicht seinen Kollegen, was er im Innern gefunden hat: Für das ungeschulte Auge sieht es aus wie eine Handvoll Erde und Schutt; tatsächlich sind es Wirbelknochen, Fragmente eines Schädels, Zähne. Mehr ist nicht geblieben von dem Soldaten, den Jukow und sein Team an diesem Tag aus dem Militärtransporter bergen. Dieser muss hier, eine Autostunde nördlich von Slowjansk, irgendwann im Jahr 2022 zerstört worden sein.

Eigentlich ist der 38-jährige Jukow Kampfsportlehrer. Seit vielen Jahren schon trägt er bei der Arbeit aber blaue Einweghandschuhe und eine abgenutzte Camouflage-Uniform ohne Abzeichen. Er ist der Leiter der Freiwilligenorganisation "Schwarze Tulpe", deren Aufgabe es ist, die sterblichen Überreste von Kriegsgefallenen im Donbass zusammenzusuchen, einzusammeln und zu dokumentieren. Wenn er von den verbrannten Leichenteilen spricht, die nach fünfstündiger Arbeit in einer einzigen Plastiktasche Platz haben, redet Jukow immer noch über eine "Person". Er wolle den Toten ihre Würde zurückgeben, erklärt er, ihnen ein Begräbnis ermöglichen. Dies sei schließlich, was den Menschen von Tieren unterscheide.

Die Freiwilligenorganisation "Schwarze Tulpe" sucht nach den vergessenen Toten des Krieges im Donbass, der vor zehn Jahren begann.
Dzvinka Pinchuk

Die Schwarze Tulpe kommt zum Einsatz, wo sie gebraucht wird; zuweilen auch in der Nähe der Front, vor allem bei schlechtem Wetter, wenn die russischen Aufklärungsdrohnen das Team nicht gut orten können. Manchmal findet Jukow bei den Toten Fotos von Familienmitgliedern, Liebesbriefe, Schmuck. Heute zieht er einen Löffel, einen kaputten Taschenrechner, eine Schere und die Fetzen einer Uniform aus dem zerstörten Fahrzeug.

Zehn Jahre Krieg

Alles deute darauf hin, dass sie einem russischen Soldaten gehörten, sagt Jukow, während er nach eindeutigen Kennnummern auf den verbrannten technischen Geräten sucht. Nach der Dokumentation des Fundorts werde die Leiche dem Krematorium in Slowjansk überbracht. Auch eine DNA-Analyse soll noch erfolgen. Seit April 2014, also seit genau zehn Jahren, wütet in der ostukrainischen Region mit den beiden Oblasten Donezk und Luhansk der Krieg. Und viele Menschen haben wenig Verständnis dafür, dass so viel Zeit und Aufwand in die Bergung getöteter russischer Soldaten investiert werden. Für die Angreifer, die so viel Leid über das Land und dessen Bewohner gebracht haben.

Für Jukow ist das Nebensache: "Wir kämpfen nicht gegen Tote", sagt er. Und eines Tages, so hofft er, könnte dieser geborgene Soldat auch dazu beitragen, dass bei einem Austausch mit Russland ein ukrainischer Gefallener in seine Heimat zurückkehren darf. "Wir tun alles, um diese Kinder ihren Müttern zurückzubringen", sagt Jukow. Er will den Toten und ihren Familien jenen Frieden zurückgeben, den der Donbass schon so lange nicht mehr erlebt hat. Seit einem Jahrzehnt sterben Menschen hier einen gewaltsamen Tod; andere wurden zur Flucht gezwungen, kehrten wieder zurück, bauten zerstörte Häuser, Straßen und Brücken wieder auf. Und nun droht alles wieder von vorn zu beginnen.

Wo alles begann

Mittlerweile stehe alles auf der Kippe, sagt Denys Bihunow. Der 37-Jährige betritt ein rotes Backsteingebäude im Zentrum von Slowjansk. Hier befindet sich das zivilgesellschaftliche Zentrum Drukarnia, auf Deutsch "Druckerei", in dem Bihunow mitarbeitet: Nach Ausbruch des Kriegs 2014 unterstützte es, unter schwierigsten Bedingungen, zahlreiche Initiativen für Umweltschutz und den Austausch im kulturellen Bereich. Durch die Eskalation ab Februar 2022 sei die ganze Arbeit beinahe zunichtegemacht worden. Die Räume, in denen bis vor einigen Jahren noch regelmäßig Workshops für Medienmitarbeiter oder Ausstellungen stattfanden, sind nun beinahe leer. Und auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht ein nagelneuer Betonbunker, im Innern finden sich kahle Sitzbänke. Erst vor wenigen Wochen wurde er für die Slowjansker Zivilbevölkerung aufgebaut, so beiläufig, als wäre es eine Bushaltestelle.

Viele seiner Bekannten, die einst aus Slowjansk geflohen waren, seien im vergangenen Jahr zurückgekehrt, erzählt Bihunow. Die Mietpreise seien in anderen Landesteilen für viele Binnenvertriebene oft nicht leistbar. Die für die ukrainische Armee erfolgreiche Gegenoffensive im Herbst 2022 bei Charkiw im Norden und Cherson im Süden habe zudem die Hoffnung geschürt, dass die ukrainische Armee auch im Donbass Erfolge erzielen könne. Nach dem Fall von Bachmut im vergangenen und Awdijiwka in diesem Jahr allerdings stellten sich im Donbass vielen die Frage, welche Stadt wohl als nächste dran sein werde. So stehen die Zeichen in Slowjansk auf Krieg – noch immer, wieder einmal.

Denn genau hier fing im April 2014 alles an. Bereits wenige Wochen nach der so wegweisenden Maidan-Revolution im Februar und der Annexion der Krim durch die Russische Föderation im März wurde Slowjansk rund drei Monate lang von Separatisten besetzt. Mit Militär, Propaganda und Desinformation hatte es Russland hier geschafft, das nach dem Regierungswechsel in Kiew entstandene Machtvakuum für sich zu nutzen. Die Krim hatte sich innerhalb weniger Wochen einnehmen lassen, wobei Russland das eigene Zutun zunächst vehement bestritt. Im Donbass hingegen, wo der Kreml ebenfalls seit Jahren versucht hatte, zur Kultivierung einer prorussischen Stimmung beizutragen, verliefen die Dinge etwas anders, wie Bihunow erzählt.

"War 24/7"

Seitdem die ukrainische Armee Slowjansk – die Stadt zählte damals über 100.000 Einwohner – im Jahr 2014 von den russischen Separatisten zurückerobern konnte, befand sich die Frontlinie immer mehr oder weniger in der Nähe. In etwa 80 Kilometer Entfernung – und damit weit genug, damit sich internationale Hilfsorganisationen hier ansiedelten, in die Infrastruktur investiert und sogar ein Teil der Wirtschaft wieder angekurbelt werden konnte. Das änderte sich seit der Invasion 2022. Und insbesondere, seit die Kämpfe in bloß noch etwa 30 Kilometer Entfernung ausgefochten werden. "War 24/7" hat jemand auf eine Häusermauer neben dem Bahnhof geschrieben. Krieg 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Viele in Slowjansk säßen derzeit wieder auf gepackten Koffern, sagt Bihunow.

In den wenigen Restaurants, die in Slowjansk noch geöffnet sind, finden sich fast nur noch Soldaten ein. In einem davon arbeitet seit vergangenem Oktober Viktoria Rythenko: Die 27-Jährige kommt aus Chmelnyzkyj, einer Stadt weit weg von hier, im Westen der Ukraine. Sie sei hergekommen, um näher bei ihrem Mann Serhii zu sein, der im Donbass an der Front kämpft. "Nachdem mein Mann mobilisiert worden war, stellte ich fest, dass ich in eine depressive Stimmung verfiel", sagt Rythenko. So habe sie entschieden, zusammen mit dem Hund auf eigene Faust nach Slowjansk zu ziehen, um Serhii zumindest hin und wieder für wenige Stunden zu sehen. Nun wohnt sie allein in einer Wohnung im fünften Stock eines Apartmentblocks. "Wenn ich allein zu Hause bin, habe ich Angst", sagt sie. Denn dort gebe es keinen Schutzbunker. "Wenn ich bei der Arbeit bin und die Explosionen höre, dann ist es nicht so beängstigend."

Trotz des Kriegs sei sie darum bemüht, diesen Landesteil kennenzulernen, ihre Zeit hier als neue Erfahrung zu betrachten. Obwohl sie von einem Gefühl der permanenten Gefahr berichtet. "In Slowjansk gibt es gerade keinen Platz und keine Zeit für Träume und Kreativität, weil die Inspiration fehlt", sagt Rythenko. Diese Stadt sei ein Ort, an dem man jeden Tag vor allem praktisch und pragmatisch sein müsse.

Mehr als 1500 Leichen

Selbst im Zentrum von Slowjansk sind immer mehr beschädigte und zerstörte Gebäude zu sehen. Etwas außerhalb zeigt sich das wahre Ausmaß der Verwüstung. Metall, das in alle Richtungen verbogen ist. Einschusslöcher. Bäume, die eingeknickt oder abgebrannt sind. Gartentore, auf die Menschen verzweifelt gepinselt haben: "Zivilisten". Minenwarnschilder, Schwimmbrücken, die Uno-blauen Abdeckungen auf eingestürzten Dächern. An manchen Stellen werden neue Schützengräben ausgehoben; Befestigungen, die in den Augen mancher Militärexperten erst viel zu spät errichtet werden. Und man fragt sich angesichts all dessen, wie dieser Ort jemals wieder heilen kann.

Allein seit 2022 hat die Schwarze Tulpe mehr als 1500 Leichen in der Gegend um Slowjansk geborgen. "Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir die Welt der Toten beruhigen müssen", sagt Jukow. Jeden Tag halte er verlorene Seelen in seinen Händen. Leben, die vorbei sind. "Es ist schrecklich. Es ist schwer", sagt er. "Aber wenn wir jemanden finden, dann war dieser Tag zumindest nicht umsonst." (Daniela Prugger aus Slowjansk, 27.4.2024)