Die hohe Teuerung der letzten beiden Jahre und die steigende Arbeitslosigkeit wegen der aktuellen Wirtschaftsschwäche treiben immer mehr Menschen in Österreich an den Rand des finanziellen Kollapses. Im Vorjahr hätten 21.600 Privatpersonen erstmals Hilfe von Schuldenberatungen gesucht, das sei ein Anstieg um 17 Prozent, verglichen mit 2022, und der höchste Wert seit zwölf Jahren, berichtet Clemens Mitterlehner, Chef der heimischen Dachorganisation ASB Schuldnerberatungen. "Alarmierend bei den aktuellen Daten ist, dass bereits jede achte Person hohe Lebenshaltungskosten und Wohnungskosten als Überschuldungsgrund nennt", sagte er am Montag anlässlich der Präsentation des Schuldenreports 2024.

Sozialminister Rauch und ASB-Chef Mitterlehner bei der Presskonferenz im Vorjahr.
Auch im Vorjahr präsentierten Sozialminister Rauch und ASB-Chef Mitterlehner gemeinsam den Schuldenreport.
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"Die Krisen der vergangenen Jahre haben Menschen, die zuvor schon Schulden hatten, besonders hart getroffen. Vor allem die Preissteigerungen bei Lebensmitteln, Mieten und Energie haben die Situation vieler Menschen verschärft", betont der grüne Sozialminister Johannes Rauch – und lässt wenige Monate vor der Nationalratswahl kein gutes Haar am Koalitionspartner. Im Gegensatz zur ÖVP, die die aktuelle 55-prozentige Nettoersatzrate bei Arbeitslosigkeit – Letztere ist der häufigste Grund für Überschuldung – absenken will, spricht er sich wie Mitterlehner für das Gegenteil aus: nämlich eine Erhöhung der Ersatzrate auf 70 Prozent des Letztbezugs.

Mit ÖVP "nicht machbar"

Dies sei ebenso wie andere Maßnahmen, etwa eine deutliche Erhöhung des Existenzminimums, mit dem Koalitionspartner aber "aktuell nicht machbar", erklärte Rauch. Ihm zufolge ist Überschuldung meist nicht nur auf individuelles Verschulden zurückzuführen, sondern sie habe eben auch strukturelle Ursachen. Zudem sei erwiesen, dass sich "Investitionen in Menschen" auszahlten, jeder Euro rechne sich doppelt und dreifach, da Überschuldung häufig auch zu psychischen Erkrankungen wie Depression bei Betroffenen führe. "Ich halte das für fatal", sagte der Sozialminister über das Ausbleiben dieser Schritte. "Nur ein sozialer Staat bleibt demokratisch."

Dem Sozialminister ebenfalls ein Dorn im Auge sind Inkassobüros, die sich in Österreich "dumm und dämlich verdienen". Durch Verzugs- und Zinseszinsen würden sich die Schulden Betroffener alle acht Jahre verdreifachen – strengere Vorgaben für die Branche, wonach sich Schulden durch Zinsen und Kosten maximal verdoppeln dürften, seien an der Wirtschaftskammer gescheitert, erklärte Rauch und stellte als Frage in den Raum: "Steht die ÖVP aufseiten der Menschen oder der Inkassobüros?"

Generell merkte der grüne Minister an: Wenn Unternehmen oder Branchen in Probleme gerieten, würden selten Fehlverhalten, sondern meist strukturelle Ursachen als Grund dafür gelten, was dann auch nach Möglichkeit beseitigt werde. Bei Privatpersonen sei dies anders.

Höheres Existenzminimum

ASB-Chef Mitterlehner fordert daher eine deutliche Erhöhung des Existenzminimums, das seiner Ansicht nach diese Bezeichnung zu Unrecht trage. Derzeit beträgt es knapp 1218 Euro pro Monat – aus Mitterlehners Sicht zu wenig für ein "menschenwürdiges Leben". Die Folge: Da darüber liegende Beträge von Gläubigern gepfändet werden dürften, müssten Menschen mit Schulden sehr häufig in Armut und in existentiellem Mangel, etwa bei Nahrungsmitteln, leben. Um dies zu verhindern, seien jeden Monat 1730 Euro als Existenzminimum notwendig.

Zudem warnte Mitterlehner davor, die Mindestdauer eines Privatkonkurses – zurzeit drei Jahre – zu verlängern. Die derzeitige Regelung läuft Mitte 2026 aus, dann könnte die Dauer auf fünf Jahre erhöht werden, sofern nicht ehemalige Selbstständigkeit als Insolvenzgrund gilt.

Eine Frau mit Einkaufskorb vor einer Auswahl an Gemüse.
Die Kosten für Lebensmittel, Miete und Energie sind für immer mehr Personen in Österreich nicht mehr zu stemmen.
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Einig sind sich Rauch und Mitterlehner, dass mehr Wissen über den Umgang mit Geld finanzielle Schieflagen unterbinden könne – allein dadurch, dass man die Schuldenfallen des Alltags umschifft. Der Sozialminister berichtete von einem Schulbesuch in einer Klasse mit 35 Jugendlichen, bei dem er sie aufforderte, ihre Banking-App am Smartphone zu startet. Bei 30 davon sei zuerst eine Werbung für einen Onlinekredit aufgeschienen. Gerade für junge Personen bis 30 Jahren eine große Versuchung, denn 30 Prozent von ihnen geben schlechten Umgang mit Geld als Grund ihrer Überschuldung an. (Alexander Hahn, 6.5.2024)